Aus den Religionen der Welt
Schwäche wird als Stärke entlarvt, Geduld wird belohnt, Macht braucht Barmherzigkeit, und es lohnt sich, Schuld einzugestehen. – Gleichnisse erzählen von den großen Themen des Lebens, von Weisheit und Torheit, Liebe und Haß, von Verrat und Vergebung, von Angst und Hoffnung. Mit eindringlichen Bildern beschreiben sie den Umgang der Menschen miteinander, in alltäglichen oder in extremen Situationen. Sie sprechen von der Klugheit, dem Witz und dem Mut, der nötig ist, um in der Wahrheit zu leben.
Gleichnisse sind Bestandteil der Dichtung von Beginn an. Als Fabel, als Allegorie oder als parabelhafte Erzählung finden sie sich auch in den Religionen. Denn obwohl mitten aus dem Leben gegriffen, sagen sie stets auch etwas aus über das Verhältnis des Menschen zum Unsichtbaren oder Göttlichen. In dieser Spannung besteht ihr Reiz.Der Band versammelt klassische Gleichnisse aus den großen Büchern der Weltreligionen, aus dem Alten Testament (von den zwei Ohrringen, von den fruchtlosen Bäumen, vom tiefen Brunnen), dem Neuen Testament (von den ungleichen Brüdern, den zehn Jungfrauen, den Arbeitern im Weinberg, vom verlorenen Sohn), aus den Reden Buddhas (das Bild vom Ochsen, das Gleichnis der Sandburgen), dem Hinduismus (Baumgleichnis) und dem Islam (Diener zweier Herren, das Gleichnis der Spinnen und viele andere). Sie zeichnen die Landkarte der menschlichen Existenz, sie zeigen den Menschen in seiner Vereinzelung und im Miteinander, auf der Suche nach Erkenntnis.
Ein Gleichnis»Es lebt da ein König im Chinalande. Wenn er dem Meer ein Opfer darzubringen wünscht, fährt er alle vier Monate mit seinem Löwengespann eine Meile weit ins Meer hinaus. Und vor dem Vorderteil seines Wagens weicht die mächtige Wassermasse zurück, und beim Zurückfahren flutet sie wieder heran. Könnte wohl jemals in der Welt von allen Göttern oder Menschen durch natürliche Körperkraft das gewaltige Meer zum Zurückweichen gebracht werden?« – »Nein, Herr. Nicht einmal bei einem ganz winzigen Teich wäre dies möglich, geschweige denn bei dem gewaltigen Meer.« – »Auf solche Weise, mein König, hat man die Wirkungsweise der Wahrheit aufzufassen. Und es gibt nichts, was nicht durch die Wirkungskraft der Wahrheit zu erreichen wäre.« Aus den buddhistischen Fragen des Milindo