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View Rights Portal»Fröstelnd unter den Masken des Wissens, / Von Unerhörtem verstört, / Traumlos am Tag unter zynischen Uhren, …« – die neuen Gedichte des einunddreißigjährigen Lyrikers Durs Grünbein zeugen in radikalisierter Weise von schmerzhaft desillusioniertem Bewußtsein und einem schonungslosen Blick auf die Anatomie unserer Zeit und ihrer Menschen. Bereits in seinem ersten Gedichtband Grauzone morgens bilanzierte der aus Dresden stammende Durs Grünbein das Lebensgefühl seiner Generation im sozialistischen Ghetto.Durs Grünbeins zweites Buch Schädelbasislektion blickte unsentimental zurück auf den Zerfall der DDR und sezierte in wuchtig-wahrnehmungsscharfen Gedichtzyklen den Raum zwischen Gehirn und Schädeldecke, um Ich und Sprache sarkastisch zu diagnostizieren: »Was Du bist steht am Rand / anatomischer Tafeln.«Zwischen 1991 und 1994 entstanden, zeigt Durs Grünbeins dritte Sammlung von Gedichten – Falten und Fallen – die Fortschreibung eines poetischen Konzepts.Im Ausgang von präzisen Beobachtungen des Alltags, am Ort, wo das Banale und das Symbolische sich überschneiden, und auf den Spuren von Verletzung und Begehren sucht diese analytische Lyrik den Zusammenhang von Sprache und Physis zu erkunden: »Denk von den Wundrändern her, vom Veto / Der Eingeweide, vom Schweigen / Der Schädelnähte. Das Aufgehen der Monde / Über den Nagelbetten führt / Andere Himmel herauf, strenger gestirnt.«Das Gedicht, schrieb Durs Grünbein, führt »idealerweise das Denken in einer Folge physiologischer Kurzschlüsse vor. Jeder Entladung folgt sofort wieder ein Spannungsaufbau und umgekehrt. Die Energie hierfür liefert ein Komplex, der eigentlich nur unzureichend mit ›Körper‹ bezeichnet ist, weil er sehr viel tiefer unter die Haut geht.«
Mit seinem Gedichtband Grauzone morgens überraschte im Jahr 1988 ein 26jähriger Dichter aus Dresden – aus der damaligen DDR. Ein »Hineingeborener«, der von seinem Land sich nicht mehr poetische Aufbauhilfe abverlangen ließ, zog mit scharfgeschnittenen Momentaufnahmen aus dem »Ghetto einer verlorenen Generation« in den Metropolen des Sozialismus seine erste Bilanz – mit nüchternem Blick »in Augenhöhe«.Mit seinem zweiten Gedichtband Schädelbasislektion hat Durs Grünbein den »stillen Aufruhr« poetischer »Zeitrafferaufnahmen« weitergetrieben. Die Tagträume in den Rissen des Alltags von damals sind benennbar geworden.»Komm zu Dir Gedicht. Berlins Mauer ist offen jetzt. / Wehleid des Wartens. Langweile in Hegels Schmalland / Vorbei wie das stählerne Schweigen …«Illusionslos und radikal hat Durs Grünbein in Schädelbasislektion seine Gedichtsprache fortentwickelt.
Was ist da los? Die Amerikaner verlassen den Mond, überlassen Nachzüglern den scheintoten Begleiter der Erde. Zeit zum Rekapitulieren: An einem Sonntagnachmittag in Berlin, auf dem Flugfeld des stillgelegten Aeroports Tempelhof, macht der Dichter Durs Grünbein eine folgenreiche Beobachtung. Was, wenn die Menschheit immer nur zurückkehren wollte von ihren Abenteuern der Raumerkundung? Gestern der Mond, morgen der Mars und übermorgen…? Da begegnet ihm Cyrano de Bergerac, der spöttische Reisende durch die Planetenreiche der Imagination, ein Zeitgenosse des René Descartes. Er ruft ihm über die Jahrhunderte hinweg zu: Es gibt nur eine Sensation – die der Heimkehr, alles andere sind Phantastereien! Und plötzlich öffnen sich alle Schleusen in Raum und Zeit, die Feier des Hierseins beginnt. Dort draußen die Unwirtlichkeit und die Krater (benannt nach den Helden der Wissenschaftsgeschichte, den Pionieren der Raumfahrt) – und hier unten die fragilen Elegien einer Spezies, die allmählich begreift, dass sie mutterseelenallein ist im All. Durs Grünbein hat einen neuen Gedichtzyklus geschrieben, der von der Sehnsucht ausgeht, von den verlorenen Erkenntnismühen einer im Kern romantisch gebliebenen Aufklärungskultur, die nichts anderes will, als zurückfinden zu sich, den Mond betrachten, als sei er immer noch da.
Hinter einem großangelegten Werk mit dem noch viel größeren Titel "Le Monde" verbirgt sich das ehrgeizigste Projekt des Philosophen René Descartes: In diesem Werk sollten sämtliche getrennten Wissensfäden zusammenlaufen und ein Gewebe ergeben, so dicht gewirkt, daß damit alles unter der Sonne erklärt wäre. Was den Dichter Durs Grünbein zu diesem cartesischen Universum hinzieht, ist gerade nicht der Triumph nüchterner Rationalität. Das Traumhafte jenes Traumprojekts fesselt ihn, das Phantastische hinter den abstrakten Begriffen, der spekulative Höhenflug, den Descartes sich über seinen naturwissenschaftlichen Hypothesen erlaubt, die Spur des Experimentators durchs Dickicht der allerheiligsten Mysterien – kurzum: das Bildermachen, Fabulieren mit und jenseits aller Methode. Wieviel Mensch steckt in Descartes' reinem Erkenntnis-Ich? Wieviel Anschauung verschwindet in strenger Vivisektion? Ist der Geist nicht dennoch das bewegende Grundprinzip, die causa prima des Universums? Wenn Dante der Descartes der Metapher war, war dann nicht Descartes – der Dante der neuzeitlichen Wissenschaft? Mit seinem Vers-Roman über Descartes (Vom Schnee, 2003) hatte Durs Grünbein eine bezaubernde poetische Version des Themas gegeben. Nun fügt sich ein erzählerisch angelegter Essay in drei Meditationen zur Verteidigungsschrift für einen der meistgehaßten Philosophen. Dabei findet sich am Gegenpol des heliozentrischen Weltbildes zugleich der Ursprung des modernen poetischen Ichs.
Kein anderer Dichter hat in den letzten Jahren mit so meisterhaften Großpoemen und formenreichen Zyklen beeindruckt wie Durs Grünbein. Auch die Liebe hat in seinen Gedichten ihren Auftritt, als Spiel- und Echoraum von Erotik und Psyche. Seine Liebesgedichte sind wortgewaltig und musikalisch, sinnlich und klar und zeugen von größter Empfindsamkeit. Der vorliegende Band präsentiert 85 Liebesgedichte Durs Grünbeins; 18 davon werden hier erstmals veröffentlicht. Ein Nachwort von Peter von Matt begleitet die Auswahl des Autors. »Grünbeins Gedichte bescheren dem Leser nicht wenige Glücksmomente ... « (Frankfurter Allgemeine Zeitung)
Durch Geschichte und Gegenwart verfolgt Durs Grünbein in diesem neuen, seinem zwölften Gedichtband seinen Kurs des Poetisch-historischen Gedichts. Als Spurensicherung, Ortsbestimmung versteht der Dichter seine Streifzüge durch Zeiten und Räume, in denen er nicht nur Deutschland, sondern auch dem Gegenpol vieler Deutscher, Italien, und in beiden Ländern sich selbst begegnet. Immer, hier wie dort, kreuzt Vergangenheit den Weg des Wanderers. Durch Mörderreviere führen seine Verse ebenso wie über Lichtungen, zu Tauchgängen im Mittelmeer wie auf gesamtdeutsche Sandpfade und betonierte Magistralen, zwischen Kiesgruben und Flakbunkern, entlang der Ost-West-Achse des unruhigen, wieder mit Kriegen konfrontierten Kontinents. Dass bei solchen Eindrücken der europäische Gedanke ins Spiel kommt – als Realität und Utopie –, wird niemanden wundern, der Grünbein auf seinen Wegen gefolgt ist. »Für alle Fälle kann Dichtung auch das sein: ein Gerät zum Einfangen der Zukunft.« In seinen Versen verbindet sich die genaue Betrachtung kleiner Dinge mit der feinen Ironie eines Beobachters, dem gerade das unter den großen Themen oft Verschüttete am Herzen liegt. Mit wenigen Strichen ein Gedicht zu zeichnen, ist seine mit den Jahren gereifte Kunst.
Durs Grünbein wurde am 9. Oktober 1962 in Dresden geboren. Er ist einer der bedeutendsten und auch international wirkmächtigsten deutschen Dichter und Essayisten. Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs führten ihn Reisen durch Europa, nach Südostasien und in die Vereinigten Staaten. Er war Gast des German Department der New York University und der Villa Aurora in Los Angeles. Für sein Werk erhielt er eine Vielzahl von Preisen, darunter den Georg-Büchner-Preis, den Friedrich-Nietzsche-Preis, den Friedrich-Hölderlin-Preis sowie den polnischen Zbigniew Herbert International Literary Award. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin und Rom.
Als eine kleine, aber entschiedene »Drehung des Kopfes« hat Durs Grünbein selbst das beschrieben, was sein Werk seit Mitte der neunziger Jahre bewegt, verbunden mit einer Verschiebung der Achsen und Maßstäbe. Diese Drehung des Kopfes hat den Blick nicht nur für die Weimarer Klassik, sondern ebenso für den fundamentalen Bereich der Antike geöffnet – doch nicht nur für diese. Eindringliche Porträts, aufgenommen aus verblüffenden Perspektiven, stehen im Zentrum dieser Aufsätze: Heiner Müller, Nietzsche, Goethe, Shakespeare, aber eben auch die geheimnisvolle Büste eines Miles romanus. Auf dieser physiognomischen Linie durchquert der Autor die Zeiten: in Essays, Reportagen und Recherchen, Erzählungen, Miniaturen und Charakterbildern. Ob er sich dem ikonischen Paradox einer »protestantischen Reliquie« in Marxwalde zuwendet oder dem zwischen Archaik und Modernitätssignalen flirrenden ›Event‹ einer Schönheitskonkurrenz in Caracas; ob er in einem phänomenologischen Parforceritt den Kult der Totenmaske entlarvt als Zeugnis der Indifferenz und der Menschenleere oder ob er mit seinen Antikeporträts zu Seneca und Juvenal Schaustücke bietet in der künstlerischen Rekonstruktion einer Epoche – alle diese Aufsätze setzen auf die irreduzible Physiognomik des Einzelfalls, konzentrieren sich auf das je besondere Denkbild: »Auf einer Marmorbüste herumzuhacken ist keine Kunst«, hat Grünbein einmal geschrieben, »weitaus schwieriger ist es, der Maserung ihrer Oberflächen zu folgen, die so vieles bedeuten kann.«
Der Misanthrop auf Capri (eine Anspielung auf Kaiser Tiberius) versammelt Durs Grünbeins verstreut und in den eigenen Gedichtbänden publizierten »Historien« – Gedichte hauptsächlich zur römischen Antike. Dichter wie Horaz oder Juvenal, der um das Jahr 100 unserer Zeitrechnung ein Rom beschreibt, das Grünbein »sehr ähnlich vorkommt wie die Situation heute in New York, auch ein wenig wie in Berlin«, sind ihm nicht einfach irgendwelche lateinischen Klassiker, sondern haben ihm »direkt etwas zu sagen«: Ihre Werke werden zu Interpretationsmitteln der eigenen Existenz.
»So ist´s: Wir erhalten kein kurzes Leben, sondern haben es dazu gemacht, und es mangelt uns nicht an Zeit, sondern wir verschwenden sie.« Als Stoiker widmet Seneca sein Denken der Lebenspraxis: dem gut geführten Leben, das, von Vernunft geleitet, Affekten widersteht. Seelenruhe zu erlangen ist das erklärte Ziel. Durs Grünbein befreit den berühmten Text aus der Schublade der ewig haltbaren Lebensrezepte. Ihn interessiert das Janusköpfige des Philosophen, seine schriftstellerische Könnerschaft, der Widerspruch zwischen Philosophie und Leben, aus dem gar Dichtung entsteht. Durchaus affektvoll schreibt Grünbein einen Brief, ein Postskriptum an Seneca: »Du hattest recht. Das kurze Leben raunt uns zu: halt an, /Eh die Affekte dich versklaven.« Aber »Was, wenn wir unbelehrbar sind, verstockt und in uns regt/ bei jedem Ja ein Nein sich…«
»Es gibt da ein Buch, das seinerzeit im Unbewußten explodiert sein muß, zumindest in dem des siebzehnjährigen Lesers. Der Text war mehr als zweitausend Jahre alt und doch merkwürdig frisch, seltsam geil auch, geradezu hyperaktiv«: so Durs Grünbein über sein Lieblingsbuch, das etwa 65 nach Christus entstandene Satyricon des Petronius Arbiter. Im Zentrum des nur lückenhaft überlieferten Satyricon steht Das Gastmahl des Trimalchio, ein mit Anspielungen durchsetztes Gegenstück zu Platons Symposion: Eine Bande von Mitessern und Schmarotzern versammelt sich um den zu irrwitzigem Reichtum gelangten, freigelassenen Sklaven Trimalchio. An seiner Tafel öffnet eine Cloaca maxima ihre Schleusen: ein vulgärlateinischer Strom von Volks- und Gossensprache, artikulierend eine Welt ohne Götter, eine Zivilisation, die alle menschlichen Verhältnisse relativiert. Diese Ausgabe bietet Das Gastmahl in der kongenialen Übertragung durch Otto Weinreich mit einem Nachwort von Durs Grünbein und Scherenschnitten von Luise Neupert.
25 Aufsätze enthält dieser Band. Er bietet einen chronologischen Längsschnitt durch die reiche Essayistik Durs Grünbeins über eine Spanne von mehr als 15 Jahren – von den frühen, vielzitierten Beiträgen wie der Büchner-Preis-Rede Den Körper zerbrechen, Mein babylonisches Hirn und Vulkan und Gedicht bis hin zu neuesten Aufsätzen, in denen sich der Autor mit dem Sinn lyrischer Dichtung in unserer Zeit, ihrer europäischen Herkunft und seiner spezifischen Mitgift als Glückskind in einer zerrissenen Tradition auseinandersetzt.
Die Geschichte von Daphne ist einer der reizvollsten und vieldeutigsten Mythen der Antike: Daphne, das war die treue Gefährtin der Artemis, die ihre Liebhaber verschmähte, selbst den Apoll, der sie leidenschaftlich begehrte. Aber retten konnte sie sich nur um den Preis einer Metamorphose: Auf der Flucht vor dem Gott und um Rettung flehend zu Zeus, verwandelt sich die Gejagte in einen Lorbeer. Auf fünfzig von ihm ausgewählten und angeordneten Blättern zeigt Markus Lüpertz das bildnerische Potential des Mythos von Daphne: in einer Fülle von Metamorphosen und im virtuosen Wechsel der Perspektiven. Parallel dazu hat sich Durs Grünbein der Herausforderung einer lyrischen Annäherung gestellt. In 25 Gedichten von formal klassischer Simplizität interpretiert er den Mythos neu und stellt zu den Bildern seine Version der Geschichte. Als Vorzugsausgabe in 300 arabisch numerierten und von beiden Künstlern signierten Exemplaren mit einer beigebundenen einfarbigen Radierung von Markus Lüpertz. In handbezogenem Schuber.
»Bleib stehen, Wanderer, und lies!«, riefen vor zweitausend Jahren die Grabsteine den Vorübergehenden zu. Inschriften sprachen von den Vergnügungen des Gestorbenen, von Beruf und Verdienst, Charakter und Familie. Die Persönlichkeit lebte weiter in gebundener Rede. Heute schweigen die Eiligen allenfalls ein paar Ziffern an, über denen ein Name im Leeren verharrt, beziehungslos, entlassen aus jedem Zusammenhang. Kein Zwiegespräch mehr von Diesseits und Jenseits, keine Totengeister, die es zu beschwichtigen gilt. Das wenige, das geblieben ist, gibt sich routiniert in vergeßliche Formeln gefaßt. Es ist lange her, daß in diesen Breiten die Toten zu sprechen aufgehört haben. Die Kulturgeschichte kennt Zeiten beredten und Zeiten stummen Gedenkens, sie kennt auch die Sprachlosigkeit und das leere Schweigen. In Kulturen, denen der Tod zum Tabu geworden ist, weil sie ihre eigene Sterblichkeit hysterisch hinter »Jetztzeit« verbergen, ist nur mehr indirekt die Rede vom Ende. Wie der Witz nach Sigmund Freud seine Beziehung zum Unbewußten, so offenbart das Geschwätz um den Tod eine anthropologische Enttäuschung. Alles im Griff zu haben, nur »das« nicht, muß kränkend sein für das einzige Lebewesen, das sich mit seiner Lage nicht abfinden kann. Der Effekt kann nur ein komischer sein, wo Bedauern an die Stelle von Trauer tritt. Durs Grünbein, in den letzten Jahren bekannt geworden mit seinen Gedichtbüchern Grauzone morgens (1988), Schädelbasislektion (1991) sowie Falten und Fallen (1994), zieht sich diesmal ins Halbdunkel ungewisser Autorschaft zurück. Von dort tritt er vielstimmig hervor als Philologe, Herausgeber, Nachdichter und Kompilator seiner Notizbücher. Die 33 Epitaphe Den Teuren Toten singen das Lob der Entfremdung. Eine neue Lektion deutet sich an: Lächerlich macht sich das Leben in seiner vergeblichen Wiederkehr, sieht man es als den Reinfall des Endes. Wo gestorben wird, ohne daß man den Toten Gehör schenkt, hat Schwarzer Humor seinen Augenblick.
Durs Grünbeins Gedichtbände sind dafür bekannt, dass sie ihre Gegenstände in immer weiteren Kreisen erfassen, in ihrer konzentrischen Ausbreitung wie geschaffen für dieses Zeitalter der Globalisierung. Sein neuer Gedichtband folgt dem Plan einer Ausstellung. In sieben Abteilungen werden Arbeiten aus den letzten fünf bis acht Jahren präsentiert. Es sind Bilder einer Reise, Exkursionen in das unbekannte Alltägliche, Selbstporträts und Historienbilder, Studien von Liebe und Sexualleben. In dieser eigenartig schwebenden Dichtung stehen Innenleben und äußere Welt in einer unauflösbaren Spannung: Sie ist das Lebensprinzip des Grünbeinschen Verses. Dabei ist das prägnante Einzelstück, ultimatives Ziel seines Schreibens, nur denkbar als Resultat einer seriellen Praxis. Immer sind diese Gedichte Beispiele einer peinturistischen Poesie. Jedes stellt auf seine Weise die Frage: Was ist Imagination und wie verändert sie unser Bewusstsein?
Durs Grünbeins neues Gedichtbuch ist ein poetisches Erinnerungswerk, zugleich ein Buch der Übergänge und Verwandlungen. In sieben Abteilungen und einer Vielzahl von Versformen entfaltet sich hier ein Bilderbogen zum Weltbild. Gedichte zur Herkunft stehen am Anfang, bevor sich, just im Reisegedicht, die Unheimlichkeit moderner Mobilität erweist. Ein Interludium, Strophen für übermorgen, führt zu jenem zentralen Ort, an dem der Dichter seit einem Vierteljahrhundert zu Hause ist: Transit Berlin. Genau in der Mitte der Metropole (und des Buches) findet sich auf der Museumsinsel die konzentrierte Durchdringung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Doch erneut übt die Ferne ihre Magie. Eine Folge seltsam irreal angelegter 'Charakterstücke' von liedhaftem Sprechgestus begleitet die Überquerung der Alpen in Richtung einer imaginären Antike und führt zur eigentlichen Frage dieser Lyrik: Was ist Imagination? Eine persönliche Bilanz in einer der strengsten lyrischen Formen, im Sonett, zieht der Dichter am Schluß des Bandes: Liebesgedichte und Lebensstudien.
ödipus hatte verfügt, daß sich seine Söhne, Eteokles und Polyneikes, in der Regentschaft Thebens jährlich abwechseln sollten. Als Eteokles seine Ablösung verweigert, rüsten die Söhne zum Bürgerkrieg: Der Botenbericht von den maßlosen Prahlreden der sieben Anführer des Angreiferheeres, allen voran Polyneikes, die hart dagegen gesetzten Repliken des Eteokles und die Kommentare des Chors entwickenl eine erbarmungslose Dynamik.»Grünbein bringt den großen Text noch einmal mächtig zum Klingen: Ohne beflissene Aktualisierung, ohne modernen Jargon evoziert er Wahrheit der Poesie.« So rühmt Kurt Flasch Grünbeins übersetzerkunst in der FAZ. Nach Aischylos' Die Perser und Senecas Thyestes hat Grünbein nun auch Aischylos' Sieben gegen Theben ins Deutsche übertragen, das am 20. Juni 2002 unter der Regie von Valery Fokin am Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt wurde.
Provokativer könnte ein poetischer Buchtitel nicht sein, und doch lässt der Dichter an einem nicht zweifeln: »Ganz insgesamt wird das, was man die Realität nennt, überschätzt.« Und so steuert er im ersten Teil seines Buches mit aller Kraft der Imagination konsequent hinein in die Sturmzone jener Realität, die den meisten als das Maß aller Dinge erscheint. Als welthistorisches Ereignis zeigt sich der Widerspruch zwischen Realität und Traum im Untergang eines Staates, der DDR, und den Metamorphosen seiner Gesellschaft bis heute. An den Gegensätzen von Freiheit und Solidarität auf der einen Seite, Hass und Spaltung auf der anderen, an Deutschland und Europa entwickelt der Autor im zweiten Teil seine Idee eines phantasiegeleiteten Widerstands gegen den Fetisch kruder Realität. Wo aber lägen Traum und Wirklichkeit näher beisammen als in der Kunst? In einer dritten Sektion wendet sich der Autor jenen Dichtern und Philosophen zu, an deren Ästhetiken und Ideen er die eigenen Vorstellungen geschärft hat. Der Bogen spannt sich von der Antike bis in die Gegenwart, von Ovid über Pascal und Descartes bis Celan. Durs Grünbeins neues Buch ist eine über Leitmotive miteinander verbundene Sammlung von Schriften verschiedener Genres: aus Aufsätzen, Reflexionen, Reden, Traumnotizen, Vorträgen, Sprechertexten und Gedichten. Ihr Ursprung verdankt sich der speziellen Arbeitsweise des Dichters. Aus der sammelnden und ordnenden Kartei seiner Stichworte ist ein Fundbuch hervorgegangen, das sich auf jeder Seite gewinnbringend aufschlagen lässt.
Von der Feststellung ausgehend, daß eine normenbildende, maßstabsetzende Poetik nicht mehr existiere, zeichnet Grünbein seinen dichterischen Werdegang als »Skizze zu einer persönlichen Psychopoetik«. Es geht dabei um die Idee vom genauen Wort, das seine maximale Aufladung erst als Resultante der Lebenssituation, seiner Stellung im kompositorischen Ganzen des Gedichts sowie im Gesamtsystem aller Arbeiten eines Autors erfährt. Unter dem Leitwort »Poesie ist Subjektmagie als Sprachereignis« bietet der Dichter am Ende seiner Vorlesung zehn Thesen auf dem gegenwärtigen Stand einer voraussichtlich unabschließbaren Sinnfindung: nicht als Poetik und nicht als Manifest, nicht als Theorie oder Methode, sondern als eigensinnigen Modus operandi des Dichtens in nachmagischer Zeit.